(Unter normalen Umständen wäre man bei Schreien, die aus der Polizeiwache schallen, berechtigterweise irritiert. In Ikoma sind diese ausdrücklich erwünscht.)
[26.05.2012]
Im Jahre 2010 brauchte ich dringend einen Ausgleich während meines Studiums am KIT. Nach jahrelangem Leichtathletiktraining während meiner Schulzeit, welches ich aber vor dem Abitur beendet hatte, dachte ich mir jetzt, Sport wäre doch mal wieder eine gute Sache. An der Uni gab es glücklicherweise ein sehr breites Angebot, und so habe ich mich entschieden, mir mal den Kletterverein anzusehen. Das Probeklettern war ganz spaßig. Dort habe ich auch jemanden getroffen, den ich wohl kannte, nur konnte ich mich auf Teufel komm raus nicht erinnern, von woher, oder wer die Person überhaupt war. Das habe ich mir aber natürlich nicht anmerken lassen und wie in mittelmäßigen Komödien einfach die "best Buddies"-Rolle weitergespielt. Zum Glück blieb es bei der einen peinlichen Runde, denn in den Kletterverein bin ich letztlich nicht reingekommen, die Warteliste war schlicht zu voll.
Beim Weitersuchen kam mir Judo in den Sinn, denn da hatte ich bereits etwas an "Erfahrung". Als kleine Knirpse sind mein Bruder und ich für ein knappes halbes Jahr ins Judotraining gegangen. Viel gelernt haben wir dabei nicht, denn da waren wir eher in unserer Raufboldphase und nicht wirklich daran interessiert Technik zu lernen. Dennoch, irgendwie hatte Judo durch die alte Erfahrung eine gewisse Anziehungskraft. Außerdem war ich auf der Suche nach etwas Forderndem, Kampfsport war da also eine gute Wahl.
So habe ich mich also bei den Judo-KA (ein Wortspiel, "Judoka" ist die japanische Bezeichnung für jemanden, der Judo trainiert, KA die Abkürzung für Karlsruhe), dem Judoclub des KIT angemeldet. Der Club war eine recht motivierte Truppe, so wurde kompromisslos jeder einzelne motiviert, immer sein Bestes zu geben, egal wie (wenig) fortgeschritten man war. So habe ich mich auch vom sportfreien Waschlappen innerhalb kürzester Zeit wieder relativ fit trainiert. Zwei mal die Woche ging es üblicherweise ins Training, für je 1,5 Stunden, gegliedert in Aufwärmen, Dehnen, Fallübungen, Technikübungen, Randori (intensives wettkampfartiges Training mit einem Partner über kurze Zeit) und Abschluss-Auspowern. Das Training bei den Judo-KA habe ich ohne Unterbrechung bis zu meiner Abreise nach Japan weitergemacht, dabei habe ich mich vom weißen Gürtel (9. Kyu, Anfängerlevel) bis zum gelb-orangenen Gürtel (6. Kyu) gesteigert. Um andere Farben als weiß tragen zu dürfen, muss man Prüfungen gemäß der Regeln des deutschen Judo-Bunds bestehen. In 2012 habe ich bereits für den orangenen Gurt trainiert, konnte die Prüfung dann aber nicht mehr mitmachen, weil mein Flug nur einige Tage vor dem Termin angesetzt war.
Selbstverständlich habe ich mir vorgenommen, im Heimatland des Judo weiterzutrainieren. Meinen Judogi (Trainingsanzug) habe ich zwar nicht mitgenommen, weil dann der Koffer wahrscheinlich geplatzt wäre, aber zumindest den Gürtel und meine Trainingsbücher mussten mit ins Gepäck. Diese haben dann auch den Kofferkontrolleur bei der Ankunft in Japan amüsiert (und ich war dabei sogar ein ganz kleines bisschen stolz). Doch fast ganze 3 Monate sollten verstreichen, bis ich dann tatsächlich zu meiner ersten Trainingseinheit gehen würde. Im Mai sollten dann aber Nägel mit Köpfen gemacht werden. Zu meinem Erstaunen war es gar nicht sooo einfach, eine Trainingsmöglichkeit zu finden. In meinen Gesprächen mit Japanern, bei denen ich mich auch versucht habe zu informieren wo man denn trainieren könnte, habe ich gelernt, dass zwar jeder Judo kennt, aber viele es nicht wirklich sehr mögen... Tragischerweise vermiest den meisten wohl die Schulzeit die Lust auf Judo, denn es ist sehr häufig Bestandteil des Kurrikulums. Das heißt auch, dass sich viel in den Schulen abspielt, und Kampfsportvereine ähnlich wie sie es bei uns gibt, gibt es sehr viel seltener. Matsuda-san hat mich tatkräftig unterstützt und hat für mich dann tatsächlich einen Trainingsort in Ikoma ausfindig machen können...
Die Polizeistation in Ikoma. Das Dojo befindet sich hinter der Fensterreihe links oben im 2. OG, über den großen Bannern.
Der
Ikomashijudorenmei (生駒市柔道連盟, jap. "Judo-Verband Ikoma") bietet an mehreren Tagen in der Woche Training an, wobei die Teilnehmer nach Alter gruppiert sind. Für die Erwachsenen gibt es Samstag Abends um 19:30 Uhr ein Trainingsangebot. Zu meinem ersten Besuch hat mich Matsuda-san begleitet, und so haben wir uns etwas früher auf den Weg zum Dojo gemacht, um etwa eine halbe Stunde früher dort zu sein. Nun befindet sich das Dojo an einem etwas ungewöhnlichen Ort... angekommen an unserem Ziel blicken wir auf den Eingang zur Polizeistation von Ikoma. Denn die Trainingsräume befinden sich genau hier im 2. OG des Polizeireviers. Man kann sich die Blicke vorstellen, die einen als nicht japanisch Aussehender von Uniformierten Hütern des Rechts begrüßen. Vielleicht war es aber auch ich, der gestarrt hat, immerhin hätte ich nicht damit gerechnet, je eine japanische Polizeistation von innen zu sehen. Ein kurzer Hinweis, dass wir zum Judo-Training wollen, und schon werden wir höflich die Treppe hoch geleitet.
Es hatte einen Grund, dass ich nicht alleine zum ersten Training gegangen bin, denn für mein Mitmachen beim Training mussten noch einige Dinge geklärt werden wie zum Beispiel die Sportversicherung, die Mitgliedschaft im Verband, das Ausleihen eines Trainingsanzugs und dergleichen. Mit meinen noch recht mageren Japanischkenntnissen wäre ich da nicht sehr weit gekommen, aber mit der tatkräftigen Unterstützung durch meine Begleitung konnte Ochi-sensei, mein erster Ansprechpartner all diese Dinge klären. Relativ schnell habe ich dann auch zu meinem Glück rausgefunden, dass ich hier nicht von Polizisten auf die Matte geworfen werde, sondern von ganz normalen Zivilisten, puh!
Das Dojo in der Polizeistation ist auf das Nötigste beschränkt. Beim Reinspähen seie ich einen mittelgroßen quadratischen Raum ausgelegt mit Trainingsmatten, ein paar Einbauschränke für Equipment, eine Wand mit einer Fensterreihe. Umkleide? Fehlanzeige. In die Trainingskleidung wird im Flur gewechselt, der sonst noch in irgendwelche Büros des Reviers führt. So tue ich es den Anderen gleich und schwinge mich in meinen frisch ausgeborgten Judogi und binde mir meinen mitgebrachten Gürtel um. Erhält meine Bindetechnik den Segen der aufmerksamen Beobachter? Die erfreuten Blicke scheinen mir ein "ja" zu deuten...
|
Mein Leih-Judogi. Die Stickerei sagt "Stadt Ikoma". Ich war schon ein bisschen stolz, ihn zu tragen. |
Zeit, auf die Matte zu gehen! Plötzlich stehe ich inmitten einer Traube von höchst aufmerksamen Grundschülern in weißen Trainingsanzügen, und deren Müttern. Wie sich herausstellte, findet vor dem Erwachsenentraining das Kindertraining statt. Nicht nur, dass ich kein Grundschüler bin, ich stach auch sonst ein wenig aus der Menge heraus. Ich ergebe mich einer Reihe von Interviews in Grundschüler-Japanisch (zum Glück gerade noch so mein Level...). Was mein Name sei, wo ich herkomme, und viele weitere Dinge wollen die Kleinen von mir wissen. Ganz besonders interessiert sie aber mein Gürtel, der mit Augen und Händen begutachtet wird. Anscheinend sieht dieser in den Kinderaugen recht exotisch aus mit seinem gelb-orangenen Muster. Wie ich später lernen sollte ist der Grund, dass es in Japan keine Gürtelfarben gibt wie wir sie benutzen. Naja, fast, es gibt genau zwei Farben, weiß, und eben schwarz. Ganz nach dem Motto, entweder beherrscht man Judo, oder eben (noch) nicht, zwischen Schülern und Lehrern gibt es keine weiteren Stufen.
Nach dieser so erheiternden Begrüßung ging das einstündige Training pünktlich los. Da die Sprachbarriere hoch war, waren die Erklärungen eher visueller Natur, d.h. ich habe das nachgemacht, was alle anderen machen, wobei mich die Trainer, Furusawa-sensei und Okuyama-sensei, immer wieder korrigieren, wenn ihnen etwas an meiner Form oder Ausführung nicht ganz passt. Das geschah entweder mit kurzen Kommentaren, oder mir wurden Arme, Beine, Körper einfach direkt geführt, bis es ordentlich aussah. Die Feuertaufe hatte ich also bestanden, der erste Trainingstag war intensiv, aber sehr lehrreich und auch spaßig. Ich war schon gespannt auf die nächsten Samstage!
Vom ersten Tag an war ich "Mike" für die Judo-Gang. Ich weiß nicht, was mich da geritten hat, aber irgendwie rutschte mir bei der Vorstellung dieser Name raus. Mit der Zeit habe ich mich damit angefreundet, und war dann irgendwie auch froh, dass ich für Judo einen ganz eigenen Namen hatte. Wie gesagt war die Sprachbarriere hoch, jedoch fand sich genau eine Person unter den Trainierenden, die Englisch sprechen konnte, das war Miwa-san. Sie hat mir dann doch einige Male bei den Erklärungen helfen können, was die Sache deutlich einfacher gemacht hat. Abgesehen von diesen Momenten war das Training dennoch meist "learning by doing". Die Trainingseinheiten fingen in der Regel mit einigen Runden joggen an, dann wurden verschiedene Schrittfolgen durchexerziert. Danach ging es auf dem Boden weiter mit Aufwärmen und Dehnen. Jede Übungswiederholung wurde dabei laut von einem Trainierenden durchgezählt mit "ichi ni san shi...". Dem Aufwärmen folgten Fallübungen, und wenn ich während der ersten Trainingseinheiten nicht schon vorher platt war, dann spätestens jetzt. Auch wenn das Training in Japan nur eine Stunde lang war, so war die Intensität doch deutlich höher als damals in Karlsruhe, und das war schon kein Klacks. Regelmäßig versagte mir zu Beginn der Kreislauf und ich musste mir eine Auszeit am Rand gönnen, meinen Magnesiumdrink trinkend und den Brechreiz unterdrückend. Nach den ersten paar Terminen konnte ich dann schon deutlich besser mithalten. Nachdem die Fallübungen durch waren, ging das Training zu Technikübungen über, entweder Würfe, oder, im Dojo in Ikoma besonders beliebt, Bodenübungen, insbesondere Techniken, um den Gegenüber auf den Rücken zu befördern und durch Würgen zur Aufgabe zu bewegen. Würgetechniken kannte ich zwar schon, aber sie waren für mich bislang dennoch relativ ungewohnt, da sie in Karlsruhe selten trainiert wurden. Das war hier ganz anders und bedurfte ein wenig Gewöhnung.
Das Training war generell wenig zimperlich. Es wurde erwartet, dass sämtliche Übungen, vom Aufwärmen bis zum Randori am Ende mit vollem Einsatz begangen werden. Eines der Dinge, die mir beigebracht wurden war, dass erfolgreiche Würfe mit einem lauten Ausruf zu würdigen sind. Jedes mal, wenn man das Gegenüber erfolgreich auf den Rücken befördert hat, wurde das mit einem "yah!" oder ähnlichem quittiert. Auch das erforderte eine gewisse Umstellung, da das Training in Deutschland da eher still vonstatten ging. Zum Ende des Trainings war Randori angesagt, also Trainingskämpfen. Diese Kämpfe dauern in der Regel nur eine Minute oder etwas mehr oder weniger. Ziel ist, das Gegenüber so oft wie möglich auf die Matte zu befördern mit allen Techniken, die einem bekannt sind. Die Trainingskämpfe werden zwar miteinander gemacht, dennoch wird erwartet, dass man sein Bestes gibt. Bei ungleichen Paarungen, also Schwarzgurt mit Weißgurt, unterstützt der Erfahrene zwar, um dem Lernenden etwas beizubringen, aber dennoch wird man regelmäßig in die Matte gepfeffert, denn auch das gehört zum Lernen dazu. Die Paare bilden sich dabei selbst, d.h., man schaut durch den Raum und sucht sich selbst einen Trainingspartner für die nächste Runde. Ich wurde immer gerne von sehr erfahrenen Judoka gewählt, die mich dann zum Glück aber immer eher moderat angegangen sind, um mir was Neues beizubringen.
Je nach Temperatur im Raum konnte ich beim Randori in der Regel 2 bis 3 Runden mitmachen, also oft nur knapp die Hälfte. Ab Juni habe ich meine erste Regenzeit in Japan erlebt, in der es erwartungsgemäß schwül ist, aber die Temperaturen noch erträglich sind. Gegen Juli verwandelt sich Japan und das Gebiet um Osaka insbesondere regelrecht in einen Ofen, mit Temperaturen oft nur knapp unter den 40 Grad. Man stelle sich bei den Temperaturen und bei fast 100% Luftfeuchtigheit ein Judo-Training im 2. OG eines Betongebäudes mit 30 schwitzenden Judoka in einem sehr überschaubaren Raum vor, mit nur einer einzigen Fensterwand, ohne Klimaanlage und nur mit Standventilatoren ausgestattet. Unter den Umständen war ich schon recht stolz, wenn ich das Training bis zum Ende durchgehalten habe...
|
Mitten in der Regenzeit ohne Regenschirm zu Fuß gehen ist keine gute Idee. Einmal geriet ich nach dem Judo-Training unvorbereitet in einen Schauer und war danach bis auf die Knochen nass, was jedoch alles andere als unangenehm war nach einer Stunde in einem überhitzten Dojo. |
Ein letztes Auspowern nach dem Randori - als ob das nicht schon ausgereicht hätte für die meisten - schloss das Training dann ab. Zum Schluss wurde sich in Reih und Glied hingekniet für die Abschlussansprache durch die Trainer. Die Reihenfolge des Hinkniens blieb mir vom ersten Training an bis zuletzt ein Geheimnis, doch zum Glück musste ich das auch nicht verstehen. Nachdem sich sämtliche Japaner eingereiht hatten, wurde mir freundlicherweise immer gedeutet, wo ich in der Reihe meinen Platz finden sollte. Während alle Trainingsteilnehmer den Trainern zugewandt knien, besprachen diese diverse Dinge, was das Training, Wettkämpfe oder andere judobezogene Dinge angeht. Zum ersten oder einem der ersten Trainings durfte ich mich dann auch vor versammelter Mannschaft noch vorstellen, was ich mit Ach und Krach mit meinem Basisjapanisch hinbekommen habe. Zum Abschluss wurde sich schließlich dankend abgegrüßt, Trainer und Schüler sich gegenseitig, und alle gen Kano Jigoro, dem Erfinder des Judo, der in jedem Dojo seinen Ehrenplatz hat, z.B. in Form einer Nische mit Sitzgelegenheit. Im Dojo in Ikoma befindet sich ein Schrein rechts vom Eingang erhöht in der Ecke, und dorthin geht von drei Grüßen immer der zweite, also Trainer - Schrein - Trainer.
Wie man das Dojo mit einem lauten Gruß zu Beginn des Trainings betritt, so verlässt man es mit einem lauten Gruß zum Ende des Trainings, jedoch rückwärts austretend. All diese Regeln und Riten habe ich schnell gelernt, und auch zu schätzen gelernt. Bis zum Ende meines ersten Aufenthalts bin ich immer gerne zum Training gekommen, und so habe ich gut 3 Monate am Stück authentische Judo-Erfahrung sammeln können. Diese 3 Monate sollten dann auch nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich in Ikoma trainiert habe, aber so wie mein erster Abschied ist das eine andere Geschichte.