Donnerstag, 8. Juni 2023

Mein erster Tag in Tokyo

 Nach drei Monaten in Japan war es endlich Zeit für meinen ersten Trip nach Tokyo, eine der ikonischsten Städte der Welt...

[8. Juni 2012]

Auf einen besonderen Trip habe ich mich eine Woche danach begeben, es sollte zum ersten Mal nach Tokyo gehen. Für die meisten ist diese Megametropole - die Metropolregion Tokyo ist die größte der Welt - ja das Herz Japans, und so war natürlich auch ich gespannt, diesen Ort endlich selbst zu besuchen. Bei der Bewerbung auf den Auslandsaufenthalt während des Studiums gab es zwei Optionen für Japan, das NAIST im Süden, wo ich letztlich gelandet bin, oder die Waseda-Universität in Tokyo. In Waseda ist der Schwerpunkt eher auf Robotik, und so war forschungstechnisch das kleinere NAIST interessanter für mich. Mein Betreuer hat mir allerdings den Süden zusätzlich noch ans Herz gelegt, da die Gegend seiner Meinung nach interessanter sei und damit auch einen besseren Eindruck vom Land bieten würde, Tokyo dagegen ist und bleibt am Ende eben eine gigantische Stadt. Und dennoch eine Stadt mit hoher Anziehungskraft, auch für mich...

Als Student mit knappem Budget konnte ich mir den Shinkansen, also den Schnellzug, nach Tokyo nicht einfach mal so leisten, also musste eine günstigere Alternative her. Es wurde mir von Studenten, die oft für Jobinterviews nach Tokyo tingeln der Nachtbus empfohlen. Mit beschränkten Sprachkenntnissen ist die Buchung allerdings nicht ganz einfach. Glücklicherweise gibt es in Japan einen großen national operierenden Anbieter, der seine Dienste auch auf Englisch zur Verfügung stellt, und das hat die ganze Geschichte erheblich vereinfacht. Den "Willer Express-"Nachtbus für 8400¥ hin und zurück habe ich somit glücklicherweise bequem online buchen und dann im nahelgelegenen Lawson-Konbini bezahlen können. Freundlicherweise durfte ich mir für den Trip einen Freitag frei nehmen, und so habe ich mich am 7. Nachts von Namba mit dem Bus auf den Weg gemacht, Endstation Tokyo Disneyland, Fahrtzeit 10 Stunden. Wie eine solche Reise durch die Nacht aussieht, wusste ich ja schon vom Skitrip, den ich in den ersten Tagen in Japan mitgemacht habe. Alle paar Stunden verlässt der Bus den Highway, um auf Raststätten zu halten, die einem eine kurze Auszeit, eine Mahlzeit oder Snack, und natürlich jede Menge Omiyage (Reise-Souvenirs, meistens essbar) (an)bieten. Zur Morgendämmerung rollte ich mit dem Bus bereits durch den Tokyoter Häuserdschungel, und gerade aus meinem nicht allzu komfortablen Schlaf erwacht spähte ich ganz neugierig aus dem Fenster und habe den Sonnenaufgang genossen. Der erste Anblick der teils hochmodernen Hochhäuser, extravaganten Fassaden weltbekannter Firmen-Hauptquartiere, Highways die sich vierfach übereinander lagern, der vorbeischnellenden Hochgeschwindigkeitszüge, das alles hat mich sehr fasziniert. Obwohl ich das alles ja schon von Osaka kannte, war die simple Tatsache, dass ich nun durch Tokyo fahre, irgendwie ganz von neuem aufregend. 


Ankunft am Tokyo Disneyland, leider nicht Teil meines kurzen Trips


Der Themenpark war nicht Teil meines Trips, sondern nur der an meiner Unterkunft am nächsten gelegene Stop. Von dort aus dauerte es mit dem Regionalzug noch einmal fast eine Stunde, bis ich endlich an meinem Ziel angekommen bin. Aus Budget- und aus planerischen Gründen habe ich mir ein Bett im Chiba-shi Youth Hostel, einer Jugendherberge in Chiba - eine der zahlreichen Satellitenstädte Tokyos - gebucht. Für solche Gelegenheiten hatte ich mir in Deutschland sogar noch einen Jugendherbergsausweis besorgt! Zu meinem Glück war die Herberge an dem Wochenende nicht sehr stark besucht, und so hatte ich das komplette Wochenende über ein Mehrbettzimmer ganz für mich alleine. Chiba habe ich mir auch deshalb als Bleibe ausgesucht, da am Samstag dieses Wochenendes in der Makuhari-Messe an der Küste Chibas ein großes Jubiläumskonzert einer meiner absoluten japanischen Lieblingsbands stattfand. Doch zuerst stand Sightseeing auf dem Plan! Ich war bereits gegen 10 Uhr an der Herberge, Zeit war also noch genug vorhanden, etwas die Megastadt zu erkunden. Also mit dem Zug zurück ins große Getümmel.


Links: Ein getunter VW Käfer macht die Straßen von Tokyo unsicher. Rechts: Der frisch eröffnete Sky Tree ist schon von Weitem über den Dächern Tokyos sichtbar.


Als ersten Anlaufpunkt habe ich mir Asakusa ausgesucht, ein Distrikt etwas nördlich des Herzens von Tokyo, welcher mit einigen der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt aufwartet. Die Haltestelle, an der ich ausgestiegen bin war Asakusabashi, welche noch ein gutes Stück südlich von dem Ort liegt, zu dem ich eigentlich wollte. An neuen Orten laufe ich gerne viele Strecken, statt den Nahverkehr zu nehmen, ich mag einfach die langsamere Geschwindigkeit und die Eindrücke, die man bei so einem Spaziergang mitnimmt lieber als das schnellere Ankommen am Ziel. So habe ich mich auf den Weg gemacht, mit einer Unterbrechung für das Mittagessen. Dafür habe ich mir einen sehr unscheinbaren kleinen Laden im zweiten Stock eines etwas nach hinten versetzten Gebäudes ausgesucht, den man per Außentreppe erreichen konnte. Der Innenraum war sehr überschaubar und typisch japanisch, und so war auch das Menü, von dem ich mir ein Bowlengericht ausgewählt habe. Überrascht war ich von den Reaktionen der Bedienenden, denn die Anwesenheit eines nicht-japanischen Touristen wie mir war allem Anschein nach eher die Ausnahme denn die Regel, so wurde ich ganz erfreut beim Essen beobachtet, insbesondere wie ich mich mit den Stäbchen so schlage. Auch mit Englisch wäre ich hier nicht sehr weit gekommen, womit innerhalb kürzester Zeit bereits zwei meiner Annahmen über Tokyo zerstört wurden, die da wären, dass man wenigstens hier ja an Touristen gewöhnt sein müsste, und dass man sich zumindest für die wichtigsten Dinge mit Englisch behelfen kann.




Eindrücke aus Asakusa und dem Senso-ji. Sowohl die Tore vor der Haupthalle, als auch die Halle selbst sind mit gigantischen Laternen behangen. Ich habe mich vor dem berühmten Kaminarimon ablichten lassen.


Asakusa ist der Ort des überaus bekannten Senso-ji, einem bedeutenden buddhistischen Tempel, dem ältesten in Tokyo. Ich vermute, dass so gut wie jeder, der einmal nach Tokyo gegoogelt hat ein Bild dieses Tempels gesehen hat. Noch bekannter als das Hauptgebäude ist das größte der beiden vorgelagerten Tore, Kaminarimon (雷門, dt. "Donnertor") genannt, mit seiner gigantischen Laterne. Zwischen dem Kaminarimon und dem Hauptbereich des Tempels verläuft eine Einkaufsstraße mit dutzenden links und rechts sich aneinanderreihenden Verkaufshütten, die überwiegend Souvenirs, aber auch religiöse Gegenstände verkaufen, und auch an der Peripherie finden sich viele weitere kleine Shops sowie Kneipen und Essensgelegenheiten. Als eines der Haupttouristenattraktionen war der Senso-ji natürlich recht gut besucht, zumal das Wetter auch mitspielte und die Sonne schien. Von Asakusa aus und auf dem Weg dorthin hat man auch bereits den weiter östlich gelegenen Tokyo Skytree gut im Blick, das höchste Gebäude in Tokyo und mit seinen 634 Metern der höchste Turm der Welt. Der Skytree wurde kurz vor meiner Ankunft in Japan fertiggestellt und hat seine Tore Ende Mai für die Öffentlichkeit geöffnet. Um auf die Aussichtsplatform zu kommen, musste man im Vorfeld ein Ticket reservieren, welches im Vergleich zum Eintritt für den nun fast schon klein wirkenden Tokyo Tower um ein vielfaches teurer war. Für einen Panoramablick über die Stadt habe ich mich daher lieber eines Geheimtipps bedient (armer Student und so), doch dazu später etwas mehr...


Links: Der Hauptsitz der Asahi-Brauerei sieht aus wie ein Bierglas mit Schaumkrone. Rechts: Auch Tokyo wartet mit engen Gassen und traditionellen Wohnhäusern auf.


Eindrücke aus Akihabara, DEM Viertel für Anime- und Mangakultur.

Von Asakusa aus machte ich mich zu Fuß auf den Weg zum in westlicher Richtung nicht allzu weit entfernten Ueno-Park mit seinem großen Lotus-See. Allzu lange habe ich mich dort allerdings nicht aufgehalten und bin stattdessen lieber durch die verwinkelten Gassen in der Nähe geschlendert, wo ich immer wieder noch in altem Stil erbaute Holzhäuser erspäht habe, ein interessanter Kontrast zu anderen Stadtteilen. Die letzten Stunden des Nachmittags habe ich dazu genutzt, mir Akihabara genauer anzusehen, DEM legendären Viertel für alle Auswüchse japanischer Popkultur, vollgepackt mit allem was mit Anime, Manga, Videospielen und Elektronik zu tun hat. Was man in Osaka in "Den Den Town" vorfindet, wird hier nochmal auf die Spitze getrieben. Kurz vor 8 Uhr Abends war ich wieder zurück in der Jugendherberge, bereit für eine gute Mütze Schlaf nach diesem langen Tag.

Samstag, 7. Januar 2023

Tsuyu

Im Juni beginnt in Japan die Regenzeit, Tsuyu genannt. Wenn dann regelmäßig der Regen fällt und die Luftfeuchtigkeit konstant hoch bleibt, entfaltet das Land einen ganz besonderen Charme. Für viele ist das anstrengend, für mich irgendwie wohlig...

[Juni 2012]

Auch in Japan gibt es eine fünfte Jahreszeit. Allerdings hat die nicht viel mit Karneval und fliegenden Kamellen zu tun, sondern mit Niederschlag. Die Regenzeit liefert bereits eine Vorschau auf den Rest des Sommers. Regenreiche Tage und immer feuchte Luft erinnern einen daran, dass man sich nicht mehr in Kontinentaleuropa aufhält, sondern in einem pazifischen Inselstaat. Japan ist feuchten Pazifikluftmassen ausgesetzt, die beim Zusammenprall mit kälterer Luft über den Landmassen zu Niederschlag führt. Die Tage sind bereits sehr warm und durch den Regen extrem schwül. Dadurch, dass schon bei den ersten erhöhten Temperaturen überall die Klimaanlagen auf Maximum gedreht werden, kommt es so zum Beispiel bei Zugfahrten zu starken Unterschieden zwischen Innen- und Außenklima. Nicht selten sind mir da die Brillengläser angelaufen. Beim Verlassen des Zuges, wohlgemerkt, wobei man sich vorkommt als laufe man gegen eine Wand oder direkt in ein Dampfbad hinein.




Oben links: Mein "Begrüßungsvortrag" im Juni. Schon etwas stolz stelle ich den Japanern Mosbach vor. Rechts & unten: Party im Seminarraum für die neu angekommenen Praktikanten


Gute drei Monate nach meiner Ankunft sollte ich dann am vierten Juni auch endlich meinen "Begrüßungsvortrag" halten, in dem ich mein Studienprojekt, aber auch Deutschland, Mosbach und Karlsruhe den Studenten vorgestellt habe. Das Lab hat sich in den letzten Wochen sowie im Juni nochmal gut vergrößert, denn zum einen sind neue japanische Studenten dazugekommen, zum anderen neue internationale Praktikanten. So kam es häufiger zu gemeinsamen Aktivitäten, vom N64-Zocken auf dem Beamer im Seminarraum, erholsamen Besuchen im Onsen - dem traditionellen heißen öffentlichen Bad - zu kulinarischen Entdeckungsreisen in der Umgebung der Uni. Bei letzterem war es mir eine Freude, den neuen Praktikanten Takoyaki - den heiß wie Lava glühenden Oktopusbällchen, denen mein Mundraum schon in den ersten Tagen in Japan zum Opfer gefallen sind - näherzubringen. Aber auch diverse Yakiniku- und Ramen-Läden wurden von uns ausgiebig getestet, denn Kanou-san ist ein wahrer Kenner, insbesondere was das heißgeliebte Nudelgericht angeht.


Links: Im Ramen-Restaurant. Rechts: Nächtliches N64-Zocken auf dem Beamer des Seminarraums.

Nach ausgiebigem Baden im "Yurara-no-yu" Onsen, welches eines meiner Lieblingsbäder in Japan werden sollte. Nach dem Baden gab es der Tradition nach kalte Milch aus dem Kühlautomaten. Dieses Bad wurde noch oft von uns besucht...


Zu mehreren Anlässen hatte ich die Gelegenheit und Ehre, Apfelküchle zu backen, meine Leibspeise als Kind (und auch heute noch ;) ). Eine Woche nach meinem Vortrag fand im Seminarraum unseres Labs eine Begrüßungsparty für die neuen Praktikanten aus Vietnam und Indonesien statt. Aufgetischt wurde allerlei Fleischloses und Fleischiges für alle Präferenzen. Die japanischen Studenten haben Takoyaki gebacken, und ich habe mir alle Mühe gegeben, in einer elektrischen Tischpfanne meine Apfelküchle für die Nachtischrunde halbwegs ansehnlich zuzubereiten, mit tatkräftiger Unterstützung unter anderem von Takamichi-san, der die Äpfel mühselig mit einem großen Küchenmesser geschält hat. Stilecht habe ich für die Küchle extra noch Nutella aufgetischt, wofür ich mein vor einer Weile für über 6€ im "Kaldi" Kaffee- und Importgeschäft erstandenes 350-Gramm-Glas geopfert habe. Als Botschafter guter badischer Küche darf man sich nicht lumpen lassen... Eine weitere Gelegenheit für Apfelküchle hat sich zwei Wochen später bei einem Treffen mit Freunden bei Akane ergeben, und es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein.


Links: Mein Versuch, Apfelküchle in einer elektrischen Tischpfanne zuzubereiten. Mitte: Das kleinste und zugleich teuerste Nutella, welches ich je gekauft habe! Rechts: Takoyaki-Feuertaufe für Ido und Philip im Food Court der Aeon-Mall.


Für die internationalen Studenten ging es auch einmal zu einer Glühwürmchenschau, angeleitet von Matsuda-san. Das Beobachten von Glühwürmchen ist eine beliebte traditionelle Aktivität im Frühsommer in Japan. Mit dem "Keihanna Commemorative Park" befindet sich eine schöne Parkanlage, die zur Erinnerung an die Gründung der "Keihanna Science City" angelegt wurde, nicht weit vom NAIST, welche sich für die Schau gut eignet. Die Glühwürmchen allerdings tatsächlich zu Gesicht zu bekommen ist auch etwas Glückssache, und das Wetter war nicht gerade auf unserer Seite. Dennoch haben wir nach der Dämmerung einige wenige der Leuchtkäfer beobachten können.

An einem der Tage im Großraumbüro kam es zu einem seltenen Schauspiel. Gewitter sind laut Auskunft durch die japanischen Studenten nicht allzu häufig, und so war es schon etwas besonderes, als eines direkt über uns aufzog. Noch spektakulärer war dann allerdings, als ein Blitz in eines der Flutlichter am Sportplatz direkt neben unserem Gebäude einschlug, den ich in dem Moment direkt im Blick hatte. An die Stelle der eher seltenen Gewitter treten in Japan die Taifune, die jedes Jahr fast nach Plan reihenweise von Süden nach Norden über und durch das Land ziehen. Da diese so häufig auftreten, werden sie pro Jahr einfach durchnummeriert. Diese Serie von tropischen Wirbelstürmen beginnt mit der Regenzeit und zieht sich bis in den Herbst hinein. So haben auch wir schon im Juni die ersten Warnungen per eMail-Verteiler erhalten, uns entsprechend auf die näherkommenden Stürme vorzubereiten. Von ganz Nahem sollte ich dann zu späterer Zeit einen Taifun kennenlernen, doch das ist eine Geschichte, die noch ein paar Blog-Einträge entfernt ist.


Entspanntes Picknick mit Freunden am Ufer bzw. Strand des Biwa-Sees.

Anfang Juni haben sich ein paar Freunde und ich auf den Weg zum Biwako (Biwa-See) gemacht, der in der Präfektur Shiga, östlich von Kyoto, liegt. Der Biwako ist mit fast 64 Kilometern Länge der größte See Japans und bekannt aufgrund seiner schönen An- bzw. Aussichten. Zu Acht haben wir uns also an einem Sonntag von Osaka aus mit der Bahn auf den Weg begeben. Bis zu unserer Haltestelle Shiga Station dauerte es ganze 100 Minuten, genug Zeit für Travis und mich mit unseren Kameras zu experimentieren. Die Station befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Strand. Noch einige Minuten zu Fuß Richtung Norden haben wir es uns am See gemütlich gemacht in typisch japanischer Manier mit einer großen blauen Plane für Picknick. Unser Bentou (Essensboxen) für unser etwas verspätetes Mittagessen hatten wir schon vor der Zugfahrt besorgt. An dem beliebten Strandabschnitt am breiteren Teil des langen Sees haben es sich an diesem leicht bewölkten Tag auch andere Gruppen gemütlich gemacht und die Grills angeworfen. Zum Schwimmen im See hat sich zwar keiner von uns durchgerungen, aber zumindest die Füße haben dann doch die meisten mal ins Wasser gestreckt, während wir die Aussicht auf die umgebenden Hügel genossen. Nach ein paar entspannten Stunden ging es dann wieder zurück gen Süden.

Samstag, 16. Juli 2022

Randori in der Polizeistation

(Unter normalen Umständen wäre man bei Schreien, die aus der Polizeiwache schallen, berechtigterweise irritiert. In Ikoma sind diese ausdrücklich erwünscht.)

[26.05.2012]

Im Jahre 2010 brauchte ich dringend einen Ausgleich während meines Studiums am KIT. Nach jahrelangem Leichtathletiktraining während meiner Schulzeit, welches ich aber vor dem Abitur beendet hatte, dachte ich mir jetzt, Sport wäre doch mal wieder eine gute Sache. An der Uni gab es glücklicherweise ein sehr breites Angebot, und so habe ich mich entschieden, mir mal den Kletterverein anzusehen. Das Probeklettern war ganz spaßig. Dort habe ich auch jemanden getroffen, den ich wohl kannte, nur konnte ich mich auf Teufel komm raus nicht erinnern, von woher, oder wer die Person überhaupt war. Das habe ich mir aber natürlich nicht anmerken lassen und wie in mittelmäßigen Komödien einfach die "best Buddies"-Rolle weitergespielt. Zum Glück blieb es bei der einen peinlichen Runde, denn in den Kletterverein bin ich letztlich nicht reingekommen, die Warteliste war schlicht zu voll.

Beim Weitersuchen kam mir Judo in den Sinn, denn da hatte ich bereits etwas an "Erfahrung". Als kleine Knirpse sind mein Bruder und ich für ein knappes halbes Jahr ins Judotraining gegangen. Viel gelernt haben wir dabei nicht, denn da waren wir eher in unserer Raufboldphase und nicht wirklich daran interessiert Technik zu lernen. Dennoch, irgendwie hatte Judo durch die alte Erfahrung eine gewisse Anziehungskraft. Außerdem war ich auf der Suche nach etwas Forderndem, Kampfsport war da also eine gute Wahl.

So habe ich mich also bei den Judo-KA (ein Wortspiel, "Judoka" ist die japanische Bezeichnung für jemanden, der Judo trainiert, KA die Abkürzung für Karlsruhe), dem Judoclub des KIT angemeldet. Der Club war eine recht motivierte Truppe, so wurde kompromisslos jeder einzelne motiviert, immer sein Bestes zu geben, egal wie (wenig) fortgeschritten man war. So habe ich mich auch vom sportfreien Waschlappen innerhalb kürzester Zeit wieder relativ fit trainiert. Zwei mal die Woche ging es üblicherweise ins Training, für je 1,5 Stunden, gegliedert in Aufwärmen, Dehnen, Fallübungen, Technikübungen, Randori (intensives wettkampfartiges Training mit einem Partner über kurze Zeit) und Abschluss-Auspowern. Das Training bei den Judo-KA habe ich ohne Unterbrechung bis zu meiner Abreise nach Japan weitergemacht, dabei habe ich mich vom weißen Gürtel (9. Kyu, Anfängerlevel) bis zum gelb-orangenen Gürtel (6. Kyu) gesteigert. Um andere Farben als weiß tragen zu dürfen, muss man Prüfungen gemäß der Regeln des deutschen Judo-Bunds bestehen. In 2012 habe ich bereits für den orangenen Gurt trainiert, konnte die Prüfung dann aber nicht mehr mitmachen, weil mein Flug nur einige Tage vor dem Termin angesetzt war.

Selbstverständlich habe ich mir vorgenommen, im Heimatland des Judo weiterzutrainieren. Meinen Judogi (Trainingsanzug) habe ich zwar nicht mitgenommen, weil dann der Koffer wahrscheinlich geplatzt wäre, aber zumindest den Gürtel und meine Trainingsbücher mussten mit ins Gepäck. Diese haben dann auch den Kofferkontrolleur bei der Ankunft in Japan amüsiert (und ich war dabei sogar ein ganz kleines bisschen stolz). Doch fast ganze 3 Monate sollten verstreichen, bis ich dann tatsächlich zu meiner ersten Trainingseinheit gehen würde. Im Mai sollten dann aber Nägel mit Köpfen gemacht werden. Zu meinem Erstaunen war es gar nicht sooo einfach, eine Trainingsmöglichkeit zu finden. In meinen Gesprächen mit Japanern, bei denen ich mich auch versucht habe zu informieren wo man denn trainieren könnte, habe ich gelernt, dass zwar jeder Judo kennt, aber viele es nicht wirklich sehr mögen... Tragischerweise vermiest den meisten wohl die Schulzeit die Lust auf Judo, denn es ist sehr häufig Bestandteil des Kurrikulums. Das heißt auch, dass sich viel in den Schulen abspielt, und Kampfsportvereine ähnlich wie sie es bei uns gibt, gibt es sehr viel seltener. Matsuda-san hat mich tatkräftig unterstützt und hat für mich dann tatsächlich einen Trainingsort in Ikoma ausfindig machen können...



Die Polizeistation in Ikoma. Das Dojo befindet sich hinter der Fensterreihe links oben im 2. OG, über den großen Bannern.


Der Ikomashijudorenmei (生駒市柔道連盟, jap. "Judo-Verband Ikoma") bietet an mehreren Tagen in der Woche Training an, wobei die Teilnehmer nach Alter gruppiert sind. Für die Erwachsenen gibt es Samstag Abends um 19:30 Uhr ein Trainingsangebot. Zu meinem ersten Besuch hat mich Matsuda-san begleitet, und so haben wir uns etwas früher auf den Weg zum Dojo gemacht, um etwa eine halbe Stunde früher dort zu sein. Nun befindet sich das Dojo an einem etwas ungewöhnlichen Ort... angekommen an unserem Ziel blicken wir auf den Eingang zur Polizeistation von Ikoma. Denn die Trainingsräume befinden sich genau hier im 2. OG des Polizeireviers. Man kann sich die Blicke vorstellen, die einen als nicht japanisch Aussehender von Uniformierten Hütern des Rechts begrüßen. Vielleicht war es aber auch ich, der gestarrt hat, immerhin hätte ich nicht damit gerechnet, je eine japanische Polizeistation von innen zu sehen. Ein kurzer Hinweis, dass wir zum Judo-Training wollen, und schon werden wir höflich die Treppe hoch geleitet.

Es hatte einen Grund, dass ich nicht alleine zum ersten Training gegangen bin, denn für mein Mitmachen beim Training mussten noch einige Dinge geklärt werden wie zum Beispiel die Sportversicherung, die Mitgliedschaft im Verband, das Ausleihen eines Trainingsanzugs und dergleichen. Mit meinen noch recht mageren Japanischkenntnissen wäre ich da nicht sehr weit gekommen, aber mit der tatkräftigen Unterstützung durch meine Begleitung konnte Ochi-sensei, mein erster Ansprechpartner all diese Dinge klären. Relativ schnell habe ich dann auch zu meinem Glück rausgefunden, dass ich hier nicht von Polizisten auf die Matte geworfen werde, sondern von ganz normalen Zivilisten, puh!

Das Dojo in der Polizeistation ist auf das Nötigste beschränkt. Beim Reinspähen seie ich einen mittelgroßen quadratischen Raum ausgelegt mit Trainingsmatten, ein paar Einbauschränke für Equipment, eine Wand mit einer Fensterreihe. Umkleide? Fehlanzeige. In die Trainingskleidung wird im Flur gewechselt, der sonst noch in irgendwelche Büros des Reviers führt. So tue ich es den Anderen gleich und schwinge mich in meinen frisch ausgeborgten Judogi und binde mir meinen mitgebrachten Gürtel um. Erhält meine Bindetechnik den Segen der aufmerksamen Beobachter? Die erfreuten Blicke scheinen mir ein "ja" zu deuten...


Mein Leih-Judogi. Die Stickerei sagt "Stadt Ikoma". Ich war schon ein bisschen stolz, ihn zu tragen.


Zeit, auf die Matte zu gehen! Plötzlich stehe ich inmitten einer Traube von höchst aufmerksamen Grundschülern in weißen Trainingsanzügen, und deren Müttern. Wie sich herausstellte, findet vor dem Erwachsenentraining das Kindertraining statt. Nicht nur, dass ich kein Grundschüler bin, ich stach auch sonst ein wenig aus der Menge heraus. Ich ergebe mich einer Reihe von Interviews in Grundschüler-Japanisch (zum Glück gerade noch so mein Level...). Was mein Name sei, wo ich herkomme, und viele weitere Dinge wollen die Kleinen von mir wissen. Ganz besonders interessiert sie aber mein Gürtel, der mit Augen und Händen begutachtet wird. Anscheinend sieht dieser in den Kinderaugen recht exotisch aus mit seinem gelb-orangenen Muster. Wie ich später lernen sollte ist der Grund, dass es in Japan keine Gürtelfarben gibt wie wir sie benutzen. Naja, fast, es gibt genau zwei Farben, weiß, und eben schwarz. Ganz nach dem Motto, entweder beherrscht man Judo, oder eben (noch) nicht, zwischen Schülern und Lehrern gibt es keine weiteren Stufen.

Nach dieser so erheiternden Begrüßung ging das einstündige Training pünktlich los. Da die Sprachbarriere hoch war, waren die Erklärungen eher visueller Natur, d.h. ich habe das nachgemacht, was alle anderen machen, wobei mich die Trainer, Furusawa-sensei und Okuyama-sensei, immer wieder korrigieren, wenn ihnen etwas an meiner Form oder Ausführung nicht ganz passt. Das geschah entweder mit kurzen Kommentaren, oder mir wurden Arme, Beine, Körper einfach direkt geführt, bis es ordentlich aussah. Die Feuertaufe hatte ich also bestanden, der erste Trainingstag war intensiv, aber sehr lehrreich und auch spaßig. Ich war schon gespannt auf die nächsten Samstage!

Vom ersten Tag an war ich "Mike" für die Judo-Gang. Ich weiß nicht, was mich da geritten hat, aber irgendwie rutschte mir bei der Vorstellung dieser Name raus. Mit der Zeit habe ich mich damit angefreundet, und war dann irgendwie auch froh, dass ich für Judo einen ganz eigenen Namen hatte. Wie gesagt war die Sprachbarriere hoch, jedoch fand sich genau eine Person unter den Trainierenden, die Englisch sprechen konnte, das war Miwa-san. Sie hat mir dann doch einige Male bei den Erklärungen helfen können, was die Sache deutlich einfacher gemacht hat. Abgesehen von diesen Momenten war das Training dennoch meist "learning by doing". Die Trainingseinheiten fingen in der Regel mit einigen Runden joggen an, dann wurden verschiedene Schrittfolgen durchexerziert. Danach ging es auf dem Boden weiter mit Aufwärmen und Dehnen. Jede Übungswiederholung wurde dabei laut von einem Trainierenden durchgezählt mit "ichi ni san shi...". Dem Aufwärmen folgten Fallübungen, und wenn ich während der ersten Trainingseinheiten nicht schon vorher platt war, dann spätestens jetzt. Auch wenn das Training in Japan nur eine Stunde lang war, so war die Intensität doch deutlich höher als damals in Karlsruhe, und das war schon kein Klacks. Regelmäßig versagte mir zu Beginn der Kreislauf und ich musste mir eine Auszeit am Rand gönnen, meinen Magnesiumdrink trinkend und den Brechreiz unterdrückend. Nach den ersten paar Terminen konnte ich dann schon deutlich besser mithalten. Nachdem die Fallübungen durch waren, ging das Training zu Technikübungen über, entweder Würfe, oder, im Dojo in Ikoma besonders beliebt, Bodenübungen, insbesondere Techniken, um den Gegenüber auf den Rücken zu befördern und durch Würgen zur Aufgabe zu bewegen. Würgetechniken kannte ich zwar schon, aber sie waren für mich bislang dennoch relativ ungewohnt, da sie in Karlsruhe selten trainiert wurden. Das war hier ganz anders und bedurfte ein wenig Gewöhnung.

Das Training war generell wenig zimperlich. Es wurde erwartet, dass sämtliche Übungen, vom Aufwärmen bis zum Randori am Ende mit vollem Einsatz begangen werden. Eines der Dinge, die mir beigebracht wurden war, dass erfolgreiche Würfe mit einem lauten Ausruf zu würdigen sind. Jedes mal, wenn man das Gegenüber erfolgreich auf den Rücken befördert hat, wurde das mit einem "yah!" oder ähnlichem quittiert. Auch das erforderte eine gewisse Umstellung, da das Training in Deutschland da eher still vonstatten ging. Zum Ende des Trainings war Randori angesagt, also Trainingskämpfen. Diese Kämpfe dauern in der Regel nur eine Minute oder etwas mehr oder weniger. Ziel ist, das Gegenüber so oft wie möglich auf die Matte zu befördern mit allen Techniken, die einem bekannt sind. Die Trainingskämpfe werden zwar miteinander gemacht, dennoch wird erwartet, dass man sein Bestes gibt. Bei ungleichen Paarungen, also Schwarzgurt mit Weißgurt, unterstützt der Erfahrene zwar, um dem Lernenden etwas beizubringen, aber dennoch wird man regelmäßig in die Matte gepfeffert, denn auch das gehört zum Lernen dazu. Die Paare bilden sich dabei selbst, d.h., man schaut durch den Raum und sucht sich selbst einen Trainingspartner für die nächste Runde. Ich wurde immer gerne von sehr erfahrenen Judoka gewählt, die mich dann zum Glück aber immer eher moderat angegangen sind, um mir was Neues beizubringen.

Je nach Temperatur im Raum konnte ich beim Randori in der Regel 2 bis 3 Runden mitmachen, also oft nur knapp die Hälfte. Ab Juni habe ich meine erste Regenzeit in Japan erlebt, in der es erwartungsgemäß schwül ist, aber die Temperaturen noch erträglich sind. Gegen Juli verwandelt sich Japan und das Gebiet um Osaka insbesondere regelrecht in einen Ofen, mit Temperaturen oft nur knapp unter den 40 Grad. Man stelle sich bei den Temperaturen und bei fast 100% Luftfeuchtigheit ein Judo-Training im 2. OG eines Betongebäudes mit 30 schwitzenden Judoka in einem sehr überschaubaren Raum vor, mit nur einer einzigen Fensterwand, ohne Klimaanlage und nur mit Standventilatoren ausgestattet. Unter den Umständen war ich schon recht stolz, wenn ich das Training bis zum Ende durchgehalten habe...


Mitten in der Regenzeit ohne Regenschirm zu Fuß gehen ist keine gute Idee. Einmal geriet ich nach dem Judo-Training unvorbereitet in einen Schauer und war danach bis auf die Knochen nass, was jedoch alles andere als unangenehm war nach einer Stunde in einem überhitzten Dojo.


Ein letztes Auspowern nach dem Randori - als ob das nicht schon ausgereicht hätte für die meisten - schloss das Training dann ab. Zum Schluss wurde sich in Reih und Glied hingekniet für die Abschlussansprache durch die Trainer. Die Reihenfolge des Hinkniens blieb mir vom ersten Training an bis zuletzt ein Geheimnis, doch zum Glück musste ich das auch nicht verstehen. Nachdem sich sämtliche Japaner eingereiht hatten, wurde mir freundlicherweise immer gedeutet, wo ich in der Reihe meinen Platz finden sollte. Während alle Trainingsteilnehmer den Trainern zugewandt knien, besprachen diese diverse Dinge, was das Training, Wettkämpfe oder andere judobezogene Dinge angeht. Zum ersten oder einem der ersten Trainings durfte ich mich dann auch vor versammelter Mannschaft noch vorstellen, was ich mit Ach und Krach mit meinem Basisjapanisch hinbekommen habe. Zum Abschluss wurde sich schließlich dankend abgegrüßt, Trainer und Schüler sich gegenseitig, und alle gen Kano Jigoro, dem Erfinder des Judo, der in jedem Dojo seinen Ehrenplatz hat, z.B. in Form einer Nische mit Sitzgelegenheit. Im Dojo in Ikoma befindet sich ein Schrein rechts vom Eingang erhöht in der Ecke, und dorthin geht von drei Grüßen immer der zweite, also Trainer - Schrein - Trainer.

Wie man das Dojo mit einem lauten Gruß zu Beginn des Trainings betritt, so verlässt man es mit einem lauten Gruß zum Ende des Trainings, jedoch rückwärts austretend. All diese Regeln und Riten habe ich schnell gelernt, und auch zu schätzen gelernt. Bis zum Ende meines ersten Aufenthalts bin ich immer gerne zum Training gekommen, und so habe ich gut 3 Monate am Stück authentische Judo-Erfahrung sammeln können. Diese 3 Monate sollten dann auch nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich in Ikoma trainiert habe, aber so wie mein erster Abschied ist das eine andere Geschichte.

Sonntag, 20. Februar 2022

Amemura, Auftakt einer ganz besonderen Ich-und-Japan-Geschichte

Kaum einen Ort in Japan habe ich außerhalb meines Alltags öfter besucht, kaum einen besser kennengelernt als Amemura. Hier eine Geschichte, warum das so ist.

[12.05.2012]

Ich habe bereits von Amerika-mura, oder in seiner Kurzform Amemura, berichtet, einem Szeneviertel nördlich von Namba, dem südlichen Zentrum von Osaka, und der Dotonbori, einer der wichtigsten Flaniermeilen der Stadt. Amemura besteht aus mehreren Blocks, aber das Zentrum markiert eine Kreuzung, die wie ein Dreieck aussieht. Um dieses Zentrum herum verteilen sich unzählige kleine Läden und - wichtiger für mich - Clubs und sogenannte Livehouses, also kleine Szeneschuppen für Konzerte.

Eine Woche nach dem Comin'Kobe sollte es mich wieder hierher verschlagen. Eine amerikanische Band ist an jenem Samstagabend Headliner einer Show mit 9 Bands. Alle anderen Truppen sind natürlich japanisch, weswegen ich hauptsächlich in die Stadt fuhr. Wie nichtsahnend ich doch war, wie sich der Abend letztendlich entwickeln würde...



Der coole Typ auf dem Bild oben ist Minoru. Minoru ist Hardcorefan des Headliners heute Abend. Irgendwann zwischen den Auftritten zweier Vorbands komme ich mit ihm auf japanisch ins Gespräch. Seit zehn Jahren habe er auf diese Gelegenheit gewartet, endlich seine Lieblingsband "Darkest Hour" live zu sehen. So lange hat es gedauert, bis sich die Band wieder nach Japan verirrt hat. Zum letzten Termin eine Dekade früher war es Minoru - damals noch Schüler - leider unmöglich auf eines der Konzerte zu gehen, von denen es zu seinem Leidwesen zumal nur zwei in den beiden großen Städten Osaka und Tokyo gab.

Nun sollte es also soweit sein, und so hat er sich schon in aller Voraussicht zentral vor der Bühne einen Platz gesichert. Berührungsängste mit "Moshern" hatte ich noch nie, und so entschied ich mich ihm dort Gesellschaft zu leisten. Die folgende Show war unerwartet ein riesen Spaß, denn ursprünglich hatte ich gar nicht so viel Interesse daran, den Headliner zu sehen. Nicht nur hatte die Band offensichtlich eine gute Zeit, auch Minoru neben mir hat sich die Seele aus dem Leib gefeiert. Von Minute zu Minute liefen mehr Schweißperlen sein Gesicht runter und über ein nicht enden wollendes Grinsen. Ich habe mich von der blendenden Stimmung im Club anstecken lassen und die letzte Show des Abends mehr genossen als ich erwartet hätte.


Ich habe es damals noch nicht ahnen können, aber in Johnny, dem Sänger der japanischen Band "Apoptosis", die an dem Abend ebenfalls auftrat, sollte ich im Jahr drauf einen meiner besten Freunde in Japan finden. An diesem Abend, an dem ich ihn zum ersten Mal auftreten sah, haben wir allerdings noch keine Worte gewechselt.


Die Band, weswegen ich hauptsächlich wieder mal meinen Weg nach Amemura fand. Aufmerksame Blogleser kennen die Gesichter evtl. bereits, es handelt sich um "Infernal Revulsion", eine der lauteren Bands im Spektrum des Metal.

Als die Band dann noch ankündigte, die Party in einer nahe gelegenen Rockkneipe fortzusetzen, war Minoru im siebten Himmel. "Rock Rock" heißt die besagte Lokalität, und sie ist sowas wie eine kleine Legende in Osaka. Wie ich auch lernen sollte, haben sich bereits viele weltbekannte Stars dorthin verirrt und ihre Unterschriften und Memorabilia an den Wänden und in Vitrinen hinterlassen. Aber alles der Reihe nach. Zuerst musste ich eine folgenschwere Entscheidung treffen, schließe ich mich den Party people an, oder mache ich mich auf den Heimweg. Die Sache ist nämlich die: Trotzdem der japanische öffentliche Personennahverkehr nicht von dieser Welt ist und sogar die Schweizer ob seiner Pünktlichkeit vor Neid erblassen lassen kann, gibt es bei der Geschichte einen großen Haken. So gut wie immer und überall ist Nachts um kurz vor Mitternacht Schicht im Schacht. Sobald der Shuuden (jap. 終電, kurz für 最終電車, "Saishuudensha"), der letzte Zug des Tages die Station verlässt, bleiben einem nur noch zwei Möglichkeiten, ein Taxi für 100-200€ bis "aufs Land", oder man bleibt an Ort und Stelle und wartet auf den ersten Zug des nächsten Tages. Letzteres ist gängige Praxis bei Nachteulen, und es gibt eine erstaunlich hochentwickelte Infrastruktur, die es einem ermöglicht, die Nacht mehr oder weniger komfortabel zu überbrücken, sei es in Internetcafes mit Schlafabteilen, Karaokebars, die super erschwinglichen Kapsel-Hotels, oder einfach nur Coffeeshops und Buchläden, die rund um die Uhr geöffnet haben.



Die Hauptband des Abends, "Darkest Hour", hat sich in die Herzen der Fans gespielt.

Geplant habe ich einen solchen über-Nacht-Aufenthalt eigentlich nicht, aber die Gelegenheit, mit einer Band, neuen und alten Bekanntschaften - Toshihiro, der Zeichner, war ebenfalls auf dem Konzert zugegen, da mindestens eine der Gruppen treue Abnehmerin seiner Kunst ist - in einer ikonischen Rockkneipe Party zu machen, war einfach zu gut um ausgeschlagen zu werden. Also gab ich mir einen Ruck und habe mich dem Trott gen "Rock Rock" angeschlossen. Dort angekommen war ich zuerst überrascht von der recht überschaubaren Größe des Ladens, was ihm aber definitiv einen gewissen Charme verlieh. Richtig beeindruckend waren dann aber die unzähligen signierten Fotos von Musikern und Bands entlang den Wänden, und die mit allerlei Liveshow-Erinnerungen vollgestopften Glasvitrinen. Von A wie Alice Cooper bis Z wie in Ozzy Osbourne war hier schon alles zu Gast, was Rang und Namen hat (was peinlichst genau hier dokumentiert ist). In der Kneipe also gut angekommen hat die Band den Partyhahn nochmal ordentlich aufgedreht, inklusive Mitsing-Battles mit euphorischen japanischen Fans. Ich habe mir mit Minoru eine etwas ruhigere Ecke gesucht und mit einigen der Band und deren Entourage gequatscht, und natürlich den ein oder anderen Selfie gemacht.


Signierte Bandfotos und Memorabilia von Liveauftritten zieren die Wände und Glasvitrinen des "Rock Rock".

Die After-Show-Party in vollem Gange, dennoch genug Zeit für Selfies und "Meet-&-Greets" samt Um-die-Wette-Singen (ohne mich, versteht sich ;) ).

Zu fortgeschrittener Stunde war dann Minoru irgendwann verschwunden, und als die Party ausgenommen die Hardcorefeierer ganz langsam abflaute, habe ich mich mit Toshihiro langsam auf den Weg gemacht. Mein Heimweg war mit etwas weniger als einer Stunde Zugfahrt ganz sicher deutlich länger als seiner, und dennoch (oder gerade deswegen) war er so unglaublich nett und hat mir bis in die frühen Morgenstunden Gesellschaft geleistet. Nach einer Weile des herumschlenderns in Shinsaibashi haben wir einen der schon erwähnten rund um die Uhr geöffneten Geschäfte gefunden, um sich etwas hinzusetzen, zu essen und zu trinken. Wir haben erzählt über Musik und andere Dinge, und dann wurde Toshihiro irgendwann noch ganz persönlich und hat mir von seinem Leben mit gravierenden gesundheitlichen Einschränkungen erzählt. Hatte ich schon zuvor großen Respekt vor ihm und seiner Kunst (wie alle, die ihn kennen, auf Konzerten wurde er auch schon mit "Sensei" angesprochen), hat sich das nach diesem Abend nochmal deutlich gesteigert. Irgendwann nach 5 Uhr frühmorgens begann der Puls der Stadt wieder zu schlagen, und wir nahmen unsere jeweiligen Züge nach Hause.

Obwohl ich in meiner gesamten Zeit in Japan nur zwei mal den Shuuden habe sausen lassen, ohne dass ich an Bord gewesen wäre, steht dieser Abend dennoch stellvertretend für die unzähligen Male, die ich Amemura besucht habe. Stellvertretend für die grandiosen Konzerte japanischer und ausländischer Bands, und stellvertretend für die überaus dankbaren Konzertbesucher, die Bands von Übersee mit mehr als nur offenen Armen empfangen, oft nach langer Zeit geduldigen Wartens. Und stellvertretend für die wundervollen Begegnungen die ich immer und immer wieder machen durfte. Einige davon haben sich in echte Freundschaften entwickelt.

Ach ja, was mich an jenem Sonntag geritten hat, weiß ich nicht mehr so genau, aber nach nur 2-3 Stunden Schlaf nahm ich doch tatsächlich aufs Neue einen Zug in die große Stadt, aus der ich gerade nach langer Nacht gekommen bin. Zeit sich mit Freunden von der Kirche zu treffen. Aber warum auch nicht, man lebt nur einmal!

Dienstag, 15. Februar 2022

Jetzt (ist) die Zukunft

(wie tausende musikliebende Japaner jedes Jahr bei einem Benefiz-Rockfestival auf einer künstlichen Insel den Schattenseiten eines Lebens auf dem pazifischen Feuerring trotzen)

Hier nun der Auftakt zu meinen weiteren Erlebnissen während meines ersten Japan-Aufenthalts.

[5. Mai 2012] 

Viel Pause nach der Verabschiedung meines Besuchs nach diesen mit Programm vollgestopften Tagen habe ich mir nicht gegönnt. Denn direkt am nächsten Tag, praktischerweise ein Samstag, hat sich mir eine Gelegenheit eröffnet, die ich unmöglich habe nicht ergreifen können. In Kōbe findet jährlich ein Benefiz-Festival statt, welches auf den Namen "Comin'Kobe" hört. Der Clou ist, dass das Festival völlig kostenfrei ist, die Einnahmen aber guten Zwecken zugute kommt. Kōbe weckt bei dem einen oder anderen vielleicht Konnotationen mit dem verheerenden Hanshin-Erdbeben im Jahre 1995, welches große Teile der Stadt völlig zerstört und unzählige Menschenleben gefordert hat. So ist es dann auch einfach erraten, dass sich der Benefizteil des Festivals um eben jene Katastrophe dreht. Doch seit 2011 hat sich der Fokus dieser Veranstaltung leider auf eine weitere Katastrophe ausdehnen müssen, das sich in ein jeder Gedächtnis eingebrannte Tōkohu-Erdbeben mit den drastischen Folgen in Fukushima und der gesamten Sendai-Region im Nord-Osten der japanischen Hauptinsel.


Links: "Alcott" spielen in der Mittagssonne. Rechts: Mein Mittagessen, Yakisoba.

Trotzdem das Festival kostenfrei ist, bedeutet das nicht, dass man nicht ein wenig Aufwand betreiben muss für die Teilnahme. Denn eingelassen wird nur, wer sich rechtzeitig ein Ticket reserviert hat. Meinen frühzeitigen Recherchen zum Dank habe ich genau das bewerkstelligt, und so habe ich mich stolz und voller Vorfreude frühmorgens gen Kōbe aufgemacht. Nach Ōsaka und Kyōto würde das meine dritte japanische Großstadt sein, die ich besuchen würde. Doch um ehrlich zu sein, so scharf trennen lassen sich diese drei Städte eigentlich gar nicht. Schaut man sich die Landkarte etwas genauer an, so stellt man fest, dass Ōsaka, Kōbe, Kyōto und dutzende weitere Satellitenstädte eine einzige gewaltige Gebäudemasse formen, auch bekannt als die Metropolregion Keihanshin. Nara und das Städtchen Ikoma, bei dem sich das NAIST befindet, wurde bislang noch nicht von den sich stetig verschiebenden Metropolengrenzen verschluckt, nur der simplen Tatsache geschuldet, dass sich ein kleiner Bergkamm im Weg befindet. Nachdem ich also in den Zug stieg und den Tunnel passierte, der eben jenen Bergkamm durchsticht, sollte die Fahrt noch weitere 80 Minuten dauern, ohne dass man je die Häuserberge und -schluchten wieder verlassen hätte. Was mir dann bei der Ankunft klar wurde, ist, dass ich von der Stadt selbst nicht allzu viel sehen würde, denn der Veranstaltungsort des Festivals befindet sich auf einer künstlichen Insel - der Port Island - in der Bucht von Ōsaka, an die sich die Stadt weit ausgedehnt anschmiegt.


Links: Die Meute am Feiern bei "Fear, And Loathing In Las Vegas". Rechts: Die Gitarristin von "tricot" macht einen Ausflug ins Publikum.

Das Comin'Kobe kann von der Größe her mit locker mit den größten europäischen Sommerfestivals mithalten. Aber es wäre nicht Japan, wenn es nicht noch ein bisschen extremer wäre als alles, was man so kennt. Haupt- und Nebenprogramm mit Performance-Künstlern, Ausstellungen, Verkaufsstände, Musik von 100 Bands, die 10 Bühnen gleichzeitig unsicher machen, und das alles innerhalb eines einzigen Tages! Ein kleines, aber sehr wichtiges Detail: Ausnahmslos alle auftretenden Künstler sind japanisch und überwiegend rockig. Für mich ein wahres Paradies und die perfekte Fundgrube. Mit meinem ausgedruckten und aufgrund intensiver Vorbereitungen vollgekritzelten Zeitplan begebe ich mich also ins Getümmel...

Obwohl das Angebot an Unterhaltung und Ablenkung in Form von Erwerbbarem überwältigend war, so war das Comin'Kobe'12 doch erstaunlich gelassen. Viele der Auftritte, die ich mir im Vorfeld markiert habe, konnte ich völlig stressfrei verfolgen, ja, noch nicht mal beim Fotografieren mit der großen Kamera wurde ich ausgebremst. Je später der Tag, desto schwerer wurde auch meine Umhängetasche, die Versuchung durch CDs, T-Shirts, Pins, Handtüchern und so weiter war einfach zu groß. Selbstverständlich habe ich die Gute Sache auch mit einem Kauf des Benefiz-Armbands unterstützt. Das Band umlaufend steht "05:46 -> 14:46", die Uhrzeiten der beiden schweren Erdbeben, und "Ima Mirai", also in etwa "Jetzt (ist) die Zukunft".


Links: Gelassene Stimmung. Rechts: Bilderausstellung zu dem verheerenden Erdbeben von 1995.

Links: Kunst-Installation. Rechts: Menschenmassen koordinieren, eine weitere japanische Kunst.

Einige der Bands, die ich während des Comin'Kobe'12 kennengelernt habe, haben sich zu echten Favoriten meinerseits entwickelt. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir aber auch wie lässig das gesamte Festival war, und wie unglaublich gut durchorganisiert japanische Massenveranstaltungen sind. Mit vielen neuen Eindrücken habe ich mich nach dem Headliner sowohl des Festivals als auch meiner eigenen Liste müde aber glücklich auf den Heimweg gemacht...

Montag, 14. Februar 2022

日本が恋しい

(Nihon ga koishii. Ein Mosbacher im Düsseldorfer Exil vermisst Japan...)

In Zeiten von Reisebeschränkungen, gepaart mit einer Prise Nostalgie, und mit dem Frosting der von ebenfalls im Düsseldorfer Exil lebenden Japanern ins Land mitgebrachten großstädtischen Versuchungen fällt es einem nicht leicht, sich nicht der Fantasie eines ausgedehnten Japan-Urlaubs hinzugeben. Doch es nützt alles nichts, denn die Grenzen sind dicht, und wie ich die Japaner so kenne - die letzte Abschottungs-Phase hat 214 Jährchen angedauert (von 1639 bis 1853) - sollte man nicht unbedingt mit einer baldigen Richtungsänderung rechnen. Was bleibt einem da noch zu tun? Einen alten Japan-Blog wiederbeleben? Hmm, warum denn eigentlich nicht...

Seit 2012 bis zu meiner (vorerst) endgültigen Rückkehr nach Deutschland 2019 habe ich 7 ereignisreiche und erinnerungswürdige Jahre im wunderbaren Nippon verbracht. Geschätzte 15.000 Bilder haben sich in dieser Zeit auf meinen Festplatten (ja, Plural) angesammelt, die ein oder andere Geschichte ließe sich damit schon noch zum Besten geben. Sei es der dem Blog noch geschuldeten Abschluss meines ersten Aufenthalts, der so abenteuerlich weiterging wie er angefangen hat. Oder die Geschichte wie mein zweiter Aufenthalt jener wurde, während dessen ich meine Frau kennenlernte, und wie es dazu kam, dass ich plötzlich fünf mal innerhalb eines Jahres das Dreieck Deutschland-Japan-Indonesien abgeflogen bin. Oder wie ich endgültig für die kommenden Jahre nach Japan umgesiedelt bin, um mir dort meinen Doktortitel zu erarbeiten. Es ließen sich Romane schreiben...

Ob aus dem Versuch dieser Wiederbelebung etwas Dauerhaftes wird, kann ich jetzt noch nicht sagen, aber ich hätte unglaublich Lust auf einen "Trip down memory lane", denn seine Erinnerungen zusammenzuschreiben lohnt sich allemal, scheint mir. Zumal, welch besseren Zeitpunkt als das 10-Jährige Jubiläum meines ersten Abflugs gen Fernost könnte es denn dafür geben? Und wenn der einen oder anderen Interessierten Person damit noch ein netter Zeitvertreib beschieden ist, umso besser...

In dem Sinne, wollen wir? Ach, ich mach einfach mal!

Dienstag, 11. Juni 2013

Wenn Idols auf Metal treffen...

... kommt eine ganz sonderbare Mischung zustande, die außerhalb Japans wohl meist für Stirnrunzeln sorgen dürfte, hierzulande dagegen perfekt ins Schema japanischer Unterhaltungskultur passt: Geht nicht, gibts nicht. Nach dem Motto, es wird gemacht, was gefällt. Und Geld bringt, natürlich...

Neulich bin ich ins Herz japanischer Unterhaltungskultur vorgestoßen, oder zumindest hat es sich so angefühlt. Neben den bekannten und klischeebeladenen Absonderlichkeiten wie Pachinko, Manga und Anime gibt es (neben vielen anderen) noch einen gigantischen Markt, der die japanischen Medien in vielen Bereichen bedient, und das sind die so genannten Idols. Um eine recht komplexe Geschichte kurz zu halten sei soviel erklärt, dass es sich bei Idols im Allgemeinen um ausgesprochen gutaussehende junge Frauen und Mädchen handelt, die überwiegend singend und modelnd auftreten und in japanischen Medien quasi onmipräsent sind, sei es in der Werbung, in Spielfilmen, auf Heft-Covers oder im CD-Regal. Der musikalische Bereich macht mit "Idol-Groups" einen Großteil der ganzen Idol-Welt aus. So gibt es unzählige Gruppen, die aus 3 bis hin zu 50 Mitgliedern oder mehr bestehen können, und in diesen Größenordnungen meist in weitere Untergruppen aufgeteilt sind, die dann entweder an einem fixen Ort oder tourend regelmäßig Konzerte geben. Die Musik wird dabei (mit Ausnahmen) meist simpel gehalten, mit fröhlichen, eingängigen Melodien und zuckersüßen Texten. So geht es bei Idol-Auftritten weniger um musikalische Raffinesse als vielmehr um die Show an sich, die sich über weite Teile um eine Gruppen- oder Massenchoreographie herum entfaltet.

So viel zur Theorie. Nun, was passiert, wenn man diese eigensinnige zuckersüße Pop-Welt mit etwas zusammenbringt, was damit eigentlich nichts zu tun hat? Metal zum Beispiel. Hört sich in diesem Stadium schon latent verstörend an. Was aber, wenn man statt "normaler" Idols für dieses Vorhaben auch noch ausgerechnet Kinder-Idols nimmt, und das ganze garniert mit musikalischer Experimentierfreude? Nun, das hier:

Quelle: http://www.youtube.com, Copyright: Toy's Factory


Die obengenannte unheilschwangere Kombination kulminiert derzeit in einer Band, die sich "Babymetal" nennt, bestehend aus 3 Mädchen im Alter von 13 bis 15 Jahren. Angefangen hat das ganze als Untergruppe einer Kinder-Idol-Band und erhielt seinen offiziellen Namen erst im Frühjahr vergangenen Jahres. Nun, ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich mir nicht dachte, als ich die Band entdeckt habe: "Die muss ich live sehen, komme was wolle!"
Ich habe ja schon viel Durchgenalltes gesehen, aber das führt derzeit meine Liste an, mit Abstand. Ich würde nochmal lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich es nicht ziemlich genial finde, auf die abgedrehte Art...

Aber der Reihe nach.

Ein kleines Problem stand da noch meinem Plan im Weg: Das Konzert in Osaka war restlos ausverkauft, und ich war ohne Ticket, was tun? Nach einigem Überlegen habe ich mich dazu entschlossen, als es auf den Konzerttermin zuging, an dem Tag dennoch auf gut Glück in die City zu fahren und mal zu schauen, was passiert. Gesagt, getan, und etwa eine Stunde vor Einlass am Veranstaltungsort gewesen. Und kaum eine Menschenseele da! Auf den Schreck, dass der Einlass schon vorbei sein könnte und ich wieder heimfahren kann, kam die Erkenntnis, dass letzteres erst noch stattfindet! Warum der Laden noch nicht völlig überrannt ist, hat einen Grund: Ab einer bestimmten Konzertgröße kommt in Japan ein Einlasssystem zum Einsatz, dass sich an der Ticketnummerierung orientiert. Sprich, je früher einer eine Karte kauft, desto niedriger dessen Ticketnummer, desto früher darf er die Konzerthalle betreten. Ziemlich praktisch, wie ich finde. So finden sich die Konzertbesucher auch erst kurz vor Einlass ein, früher da sein hat eh keinen Sinn.
Und tatsächlich, ich finde jemanden, der ein Ticket zu viel hat und es mir für den Originalpreis abdrückt! So habe ich also mein Abendprogramm, eine ziemlich niedrige Ticketnummer, und ein paar Gesprächspartner während des Einlasses, super ;)

Kaum Drinnen angekommen und recht weit vorne mittig platziert, komme ich mit einem meiner Steh-Nachbarn ins Gespräch, der erstmal so gar nicht ins Bild passt, abgesehen davon, dass er wie geschätzte 95% des Publikums auch männlich ist, wobei sich diese 95% großzügig über alle Altersklassen erstrecken... So steht er (Japaner) also neben mir mit Base-Cap, Nasenring, Fleshtunnels, Tattoos und einem Aborted-Shirt und wartet, dass es demnächst losgeht. Er erzählt mir davon, wie er vor ein oder zwei Jahren über England und einem Festival-Busshuttle-Service nach Wacken geflogen und gefahren ist, und vor einigen Jahren Flitterwochen in Norwegen gemacht hat. Ein überaus lässiger Typ also, der absolut perfekt ins Publikum aller anderen Konzerte, die ich so besuche passt.
Auf seine Frage, ob ich noch weitere Idol-Bands gut finde, muss ich leider verneinen. Auf meine Gegenfrage offenbart sich, dass er ein überaus großer Fan von Idol-Gruppen ist. Und von Death Metal... Damit hat er in dieser band vermutlich die ultimative Kombination gefunden.
Im weiteren Gesprächsverlauf stellt sich heraus, dass er meinen Konzertkumpel Toshihiro, den Zeichner, ebenfalls kennt. Letzterer, so habe ich dann erfahren, musste sein Shirtdesign, das er neulich für Babymetal entworfen hat (und der eigentlich für Kapellen mit solch illustren Namen wie "Dying Fetus" arbeitet), vor Druck noch entschärfen, da es wohl zu hart war. "Es seien ja noch kleine Mädchen", so sagt man mir. Welch schräger Moment...

Und dann geht es los. Wo im Moment zuvor noch alle brav mit angenehmen Abstand vor der Bühne standen und schwiegen, geht ein immenser Ruck durch die Menge, und ich finde mich vom einen Augenblick zum anderen gute 5 Meter weiter vorne. Um mich herum steigt die Euphorie, und der Druck fremder Körper, die mit aller Macht gen Bühne streben. Die drei Mädchen entern die Bühne, und die Show startet durch... Und ich versuche, das beste draus zu machen und schwimme in und mit der Menge. Es klappt... irgendwie.
Die Tour wurde im Vorfeld angekündigt mit "No MC, all metal", sprich, statt vom Band kommt die Musik tatsächlich von einer voll ausgerüsteten Metalband, die ihr Handwerk versteht. Nicht zur Metalband gehört der Gesang der Mädels, und ebendieser kommt dann leider, abgesehen von den Spontaneinlagen doch vom Band. Das tut dem Rausch der Menge keinen Abbruch, um mich herum werden die Mädels frenetisch abgefeiert, eine gute Stunde lang, dann ist der Spaß auch wieder vorbei. Man merkt sofort, der Auftritt ist hochprofessionell, die Mädchen sind trotz des jungen Alters bereits Meisterinnen ihres Faches und durch und durch Show-erprobt, da sitzt jeder Tanzschritt, jede Showeinlage, jede Zuschauerinteraktion.
Um kurz vor Acht verlassen die Band und die Mädchen die Bühne. Meine neue Konzertbekanntschaft liefert wieder die Begründung: Nach acht dürfen die Mädchen nicht mehr auftreten. Zu jung... da war er wieder, der schräge Moment.

Die Menge verläuft sich, jeder kauft noch schön CDs und Shirts, und macht sich auf den Heimweg. Draußen mache ich noch eine weitere leicht schräge Bekanntschaft: Ein offensichtlicher Nicht-Japaner mit Ziegenbart und roten Haaren steht leicht abwesend vor dem Eingang. Ein kurzes Anquatschen ergibt sofort die Gewissheit: Deutscher. Warum und wie lange er hier sei, kann ich ihm mit leichten Mühen entlocken, denn gesprächig ist er nicht allzu sehr. Für sechs Wochen, verrät er, und für Konzerte. Nur (!) für Konzerte. Der Gute ist am Vortag noch in Sapporo gewesen, was ja auch nur schlappe 1500 Kilometer entfernt ist, und fährt am Tag darauf weiter nach Hiroshima, was nochmal über 300 Kilometer macht. Und das macht er jeden Tag so, lässt er mich wissen. Nun gut...

Ich gehe heim mit einigen neuen (und alten) Erkenntnissen: 1.) Es lohnt sich, sich auf Schräge Sachen einzulassen, man weiß nie, ob man die Gelegenheit nochmal bekommt, so was mit eigenen Augen zu sehen. Noch ist die Kombination junge Mädels + Metal selbst in Japan (somit also auch weltweit) nicht nur außergewöhnlich, sondern absolut einzigartig. 2.) Japanische Innovationsfreude legt die Messlatte schwindelerregend hoch... und würde in so manchen Ländern an der Grenze des Machbaren rütteln. 3.) Die Idol-Welt ist eine wahre Geldmaschine. Es braucht ein paar hübsche Gesichter und ein lockendes Konzept, und man bekommt das Geld aus jeder beliebigen Zielgruppe gequetscht... aber ich bin schon ruhig ;)